NIGTHWAVE-DER STEIN DES ANSTOßES
DER STEIN DES ANSTOSSES
(NIGHTWAVE I)
(DER BUND VON TORN)
VON WINFRIED BRAND
Behutsam schlich er durch die Dunkelheit. Er wußte, daß dieser Flur zu seinem
Ziel führen würde, auch wenn dies nur den wenigsten Menschen auf dieser Ebene
bekannt war. Zu gut hatte Mosser Al-Takim seine "Schatzkammer" verborgen,
als daß er es einfach jedem erzählen würde. Aber das machte nichts. Marko
Nightwave kannte diesen Ort trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, die der Handelsherr
getroffen hatte.
Es hatte ihn zwar die unglaubliche Zeit von drei Tagen
gekostet, dies herauszufinden (normalerweise brauchte er vielleicht drei Stunden
für eine solche Auskunft), aber diese Zeit sollte nicht umsonst verstrichen
sein. Heute wollte er sich endlich an eine Aufgabe heranwagen, die für die meisten Diebe Tantorias mindestens zwei Nummern zu groß war - den Stein von Tossac!
Dieser einzigartige Stein war das Ziel seines heutigen Ausfluges. Allerdings
hätte auch er sich nicht an diesen Stein herangetraut, wenn er nicht von
einem Unbekannten den Auftrag dazu erhalten hätte. Ohne einen sicheren Abnehmer hätte er sonst keine Möglichkeit gehabt, den Stein auch wieder loszuwerden.
Zu bekannt war dieser nicht nur in Moa, sondern auf der ganzen Ebene
der Welt.
Seine Augen hatten sich schon lange an die Dunkelheit gewöhnt, und so hatte
er auch hier keine Probleme, die Einzelheiten des Ganges zu erkennen. Dies
mußte in seinem Geschäft so sein, denn nur so konnte er unbemerkt seine Ziele
erreichen. Und wer den größten Teil der Nacht unterwegs war und tagsüber
schlief, dessen Augen waren sowieso nicht für Tageslicht ausgelegt. Tatsächlich sah er tagsüber wesentlich schlechter als nachts; eine Eigenschaft, die ermit vielen Bewohnern Tantorias gemeinsam hatte.
Lautlos setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er vor einem Stück Wand stehenblieb. Nichts unterschied dieses Stück von anderen Teilen der Wand; und doch wußte er, daß sich hier der Zugang zu der geheimen Kammer Al-Takims
befand.
Sorgfältig tastete er über die Wand, und nach kurzer Zeit hatte er gefunden, was er gesucht hatte. Ein kleiner, kaum fühlbarer Hügel setzte sich von der ansonsten vollkommen glatten Fläche ab. Hier mußte sich der Zugang befinden.
Er tastete noch etwas
weiter, konnte aber nichts
anderes mehr entdecken,
das ihm verraten würde, wie
diese Tür denn nun zu öffnen
war.
Marko überlegte kurz,dann entschied er sich, es
einfach auszuprobieren.
Vorsichtig drückte er kurz auf die Erhebung, doch nichts geschah. Es mußte einen Trick geben, wie er durch
diese Tür kommen konnte.
Einen Moment später hatte er ein kleines Messer in der Hand und schabte damit die Oberfläche der Erhebung leicht ab. Wie er vermutet hatte, verbarg
sich unter der ersten Putzschicht ein Metallknopf, der den Zugang zu dem Raum
dahinter öffnen mußte. Marko drückte noch einmal, diesmal fester, auf den
Knopf. Jetzt, wo dieser fast freilag, konnte er auch spüren, wie das Metallstück
sich leicht in die Wand schob. Und diesmal hatte er Erfolg.
Mit einem leisen Knarren schob sich direkt neben dem Knopf ein Stück der
Wand zur Seite. Marko war bereits ein paar Meter zur Seite ausgewichen und
stand nun inmitten der Finsternis unbewegt an der Wand. Selbst wenn es einen Beobachter der Szene gegeben hätte, hätte dieser es schwer gehabt, ihn noch
zu erkennen, so verschmolz er förmlich mit der Dunkelheit.
Er wartete ein paar Minuten, ob das Geräusch der sich öffnenden Tür nicht einen der Bewohner des Hauses geweckt hatte. Als sich immer noch nichts regte, kehrte das Leben in seinen Körper zurück.
Mit wenigen geschmeidigen Schritten erreichte er die Öffnung, die sich nun
in der Wand befand. Anerkennend betrachtete er sie. Er hatte vorher nicht den kleinsten Ritz in der Mauer entdecken können. Der Erbauer dieser Tür hatte
wirklich sein Handwerk verstanden. Nur schade, daß er nicht mehr lebte. Al-Takim hatte ihn umbringen lassen, kurz nachdem er sein Werk hier vollendet hatte.
Es ging eben nichts über absolute Geheimhaltung...
Vorsichtig spähte Nightwave durch die Öffnung in den dahinterliegenden
Raum. Da der Raum keinerlei Verbindung zur Außenwelt hatte - nur durch die
Öffnung in der Wand fiel ein wenig Licht hinein - war es selbst für ihn ziemlich dunkel dort, und so glitt er vorsichtig in den Raum hinein und wartete erst einmal
ein paar Minuten, bis sich seine Augen an die hier herrschenden Licht- oder besser gesagt Dunkelheitsverhältnisse gewöhnt hatten.
Er konnte zwar immer noch nicht alles genau erkennen, doch reichte es für
seine Zwecke aus. Vorsichtig schaute er sich um und entdeckte an der hinteren Wand des Raumes ein Podest, über dem sich eine Glaskuppel wölbte. Unter dieser
Glaskuppel konnte er den Stein von Tossac erkennen - das Ziel seines heutigen Ausfluges.
Ohne auf die anderen Kostbarkeiten zu achten, die sich in dem Raum türmten, glitt er wie ein Schemen auf das Podest zu.
Er blieb vor der Glaskuppel stehen und untersuchte diese erst einmal mit
Blicken. Es kam schon einmal vor, daß solche Dinge mit vergifteten Dornen oder Zaubern gesichert waren, die sie vor solchen Menschen wie ihm schützen sollten.
Konzentriert betrachtete er die Kuppel von allen Seiten, konnte jedoch nichts
erkennen. Dann wandte er sich der Wand hinter der Kuppel zu. Nach zwei Minuten hatte er drei winzige Löcher in ihr entdeckt, durch die wahrscheinlich Giftnadeln herausgeschossen kamen, sobald er es wagte, die Kuppel anzuheben.
Sorgfältig suchte er weiter, fand jedoch keine weiteren Sicherheitsvorkehrungen.
Die Giftnadeln sollten ihm eigentlich keine Probleme bereiten. Sie waren eher
für unvorsichtigere Diebe gedacht, da man ihnen ziemlich leicht ausweichen konnte, wenn man sie einmal entdeckt hatte.
Allerdings konnte er auch nicht ausschließen, daß diese Löcher nicht für Nadeln,
sondern für Gas gedacht waren. Von solchen Sicherungen hatte er zwar
schon einmal gehört, sie aber in seinem bisherigen Leben, das immerhin schon 17
Sommer dauerte, noch nicht zu Gesicht bekommen. Ihr Verbreitungsgebiet war
auch eher der Bund von Torn als Moa. Trotzdem wollte er kein Risiko eingehen
und untersuchte die winzigen Öffnungen genauer. Nach drei weiteren Minuten
stand für ihn fest, daß es sich wirklich nur um einfache Nadeln handelte.
Er stellte sich so hin, daß die Nadeln ihn nicht treffen würden, und legte vorsichtig
die Hände auf die Glaskuppel. Ein leichtes Kribbeln durchlief ihn, als er
die Kuppel langsam anhob, doch er achtete nicht darauf, da im gleichen Moment
die erwarteten drei Nadeln aus der Wand geschossen kamen und wirkungslos
an ihm vorbeiflogen, nur um irgendwo im Raum zu landen.
Das wäre schon einmal geschafft. Sorgfältig legte er die Glaskuppel neben
sich auf den Boden und besah sich den Stein. Es schien, als ob an ihm keine
weitere Sicherung mehr angebracht
war.
Allerdings wäre dies auch ziemlich unsinnig gewesen, da die vorhandenen
Sicherungen so ziemlich jeden Dieb aufgehalten
hätten.
Allein diesen Raum zu finden, wäre für die meisten ein fast unmögliches
Unterfangen gewesen.
Marko griff nach dem tein. Er fühlte sich warm, ja fast lebendig in seiner Hand
an. Kurz betrachtete er ihn, dann steckte er ihn in eine
Tasche seiner Weste, in der sich noch keine anderen Gegenstände
befanden.
Er hatteimmer zwei oder drei Taschen
für seine Beute frei,auch wenn er in den anderen sein Arbeitszeug mit sich führte, so ziemlich die kompletteste Ausrüstung, die
man sich für einen Mann in seinem Gewerbe vorstellen konnte.
Er machte sich nicht die Mühe, die Kuppel wieder auf das Podest zu legen, da
man seinen Einbruch sowieso ziemlich schnell bemerken würde. Wozu also mehr
Zeit als unbedingt notwendig verschwenden?
Mit leisen, federnden Schritten glitt er zurück in den Gang und lauschte.
Fast war er sich sicher, daß er unbemerkt geblieben war, als er leise Schritte
hörte. Irgendjemand kam den Gang entlang, bemüht, möglichst kein Geräusch
zu machen. Da es unwahrscheinlich war, daß es sich um einen seiner Kollegen handelte, konnte es nur eine Wache sein. Den Geräuschen nach zu urteilen, die fast jenseits der Grenze des Hörbaren lagen, war die Wache gut - zu gut für
seinen Geschmack, aber das konnte er sich leider nicht aussuchen.
Wenigstens schien es nur ein einzelner Wächter zu sein, was ihn wunderte.
Anscheinend war die Kuppel doch noch durch einen Zauber gesichert gewesen, da er sich sicher war, daß er ohne solch eine Sicherung keineswegs hätte
entdeckt werden können. Jetzt fiel ihm auch das leichte Kribbeln ein, das ihn
durchlaufen hatte, als er die Glaskuppel berührte. Es mußte der Zauber gewesen sein, den er gespürt hatte. Still fluchte er in sich hinein. Das hätte er eigentlich bemerken müssen.
Inzwischen waren die leisen Schritte näher gekommen. Der Andere konnte sich nicht mehr als vielleicht 15 Meter von ihm entfernt befinden. Lautlos zog Nightwave einen Dolch, lauschte noch einen kurzen Moment und warf dann in
die Richtung, in der er den Wächter vermutete. Ein leises Reißen und ein fast unhörbarer Fluch zeigten ihm an, daß er zwar getroffen hatte, aber leider nicht so wirkungsvoll,
wie er gehofft hatte. Der Wächter war noch aktionsfähig, wie er unschwer
an den lauteren und schnelleren Schritten erkennen konnte, die sich ihm nun näherten.
Blitzschnell tauchte er in den Raum zurück, den er gerade erst verlassen
hatte. Sekunden später erschien der Wächter in der Tür. Nightwave erkannte ein Schwert, das er in seinen Händen hielt, und sah auch, wo er ihn getroffen hatte. Entweder war er nicht mehr so gut in Form, oder aber der Wächter hatte
mit einem solchen Angriff gerechnet, denn der Dolch hatte ihn nur am linken
Arm getroffen, wo er immer noch steckte. Offenbar störte er den Wächter nicht weiter, denn dieser machte keine Anstalten, ihn zu entfernen.
Stattdessen schaute er sich lauernd um. Sekundenbruchteile später erkannte Marko, daß der Wächter ihn gesehen haben mußte, denn er verließ seinen Platz in der Öffnung und stürzte sich wortlos in seine Richtung.
Ein wenig überrascht konnte Marko gerade noch dem Schwerthieb ausweichen,
der ihm sonst sicherlich den Kopf vom Rumpf getrennt hätte.
Gegen ein Schwert konnte er mit seinen Dolchen unmöglich bestehen; trotzdem lag wie von Geisterhand der nächste seiner Dolche zwischen seinen Fingern und verließ sie auch schon wieder in Richtung des Wächters.
War der Kampf bisher in fast völliger Stille verlaufen, so durchdrang jetzt
das Geräusch von Metall, das auf Metall trifft, den Raum wie ein Donnerschlag.
Marko zögerte kurz und wunderte sich, wie der andere es geschafft hatte, seinen
Dolch mit dem Schwert beiseite zu schlagen. Dieser kurze Moment hätte
ihn fast das Leben gekostet. Unglaublich gewandt schwang der Wächter wieder sein Schwert in Markos Richtung, und er konnte nur noch durch einen hastigen
Sprung nach hinten der tödlichen Klinge entgehen. Jetzt wußte er auch,
weshalb er es nur mit einem einzelnen Wächter zu tun hatte. Mehr waren einfach nicht notwendig.
Noch bevor Nightwave den Boden erreichte, erkannte er vielleicht einen Meter
neben sich ein goldenes Kurzschwert. Ohne lange nachzudenken, griff er danach
und hob es über seinen Kopf, hoffend, daß es sich nicht nur um eine Zierwaffe
handelte.
Mit einem Krachen schlug das Schwert des Wächters auf das seinige und
prellte es ihm fast aus der Hand. Der Angreifer war wirklich erstaunlich schnell,
bemerkte Marko bewundernd; dann hörte er das häßliche Geräusch von berstendem Metall.
Also doch eine Zierwaffe, dachte er verzweifelt und wälzte sich zur Seite,
dem erwarteten nächsten Hieb ausweichend.
Doch noch während er sich drehte, stellte er erstaunt
fest, daß seine Waffe immer noch in tadellosem
Zustand war. Er nahm sich keine Zeit, über dieses Wunder
nachzudenken, sondern stand in Sekundenbruchteilen
wieder auf den Beinen. Der Wächter stand ihm
gegenüber und starrte verblüfft
auf den Schwertgriff in seiner Hand, an dem sich
keine Klinge mehr befand.
Mit einem leisen Fluch schleuderte er Marko den
Griff entgegen, der sich unter
dem Geschoß hinwegdrehte
und nun seinerseits zum Angriff überging.
Noch bevor er den Wächter erreichen konnte, hatte
sich dieser schon Markos Dolch aus dem Arm gerissen
und drang mit diesem bewaffnet auf ihn ein. Das Blut,
das nun an seinem Arm herunterlief, schien ihm nicht einen
Gedanken wert zu sein.
Mitten in seinem Angriff sah Marko sich genötigt,
sich wieder zurückzuziehen, da der andere mit unglaublicher
Wut auf ihn eindrang. Wieder donnerte Metall auf Metall, und wieder hatte der Wächter danach nur noch den Griff der Waffe in der Hand. Diesmal jedoch hatte Marko beobachten können, wie es zustande kam. Es schien fast, als ob
das Kurzschwert durch den Dolch hindurch geschnitten hätte.
Marko wunderte sich nur kurz, doch diese kurze Zeitspanne reichte dem
Wächter, um den nächsten Angriff auf ihn zu starten.
Seine Faust traf Nightwaves Handgelenk und betäubte es fast. Das goldene
Kurzschwert entglitt seiner Hand und polterte zu Boden. Marko hatte keine
Zeit, sich weiter darum zu kümmern, denn im nächsten Augenblick lagen beide
eng umschlungen auf dem Boden. Er hatte sich zwar schon immer gewünscht,
sich in Gold wälzen zu können, aber so hatte Marko es eigentlich nicht gemeint.
Er spürte, wie sich die Hände des Wächters um seinen Hals schlossen und zudrückten. Verzweifelt versuchte er, den Griff zu lösen, doch konnte er mit der rechten Hand noch immer nicht wieder richtig zugreifen. Zu stark war der
Schlag gewesen, den der Wächter ihm versetzt hatte.
Vor seinen Augen tanzten bereits kleine Punkte, als er glaubte, einen Schatten zu erkennen, der auf den Wächter zu schoß, aber das konnte auch eine Täuschung
gewesen sein.
Keine Täuschung war jedoch, daß sich Sekundenbruchteile später der Griff
lockerte und der Wächter schließlich die Hände ganz von Markos malträtiertem Hals, löste um nach seinem eigenen Hals zu greifen.
Nightwave keuchte schwer vor sich hin, in dem Bemühen, wieder Luft in seine gepeinigten Lungen zu bekommen. Dann spürte er eine warme Flüssigkeit, die
auf seinen Hals tropfte. Der Körper des Wächters zuckte zusammen; dann erschlaffte er, und ein stetiger Strom von Blut ergoß sich über Marko.
Ohne über die Geschehnisse nachzudenken, nur froh, dem Tod noch einmal
von der Schippe gesprungen zu sein, kroch er, so schnell sein Zustand es zuließ,
unter dem toten Körper des Wächters hervor, was allerdings eine Weile dauerte,
da er immer noch unter den Nachwirkungen des Würgegriffs zu leiden hatte.
Er setzte sich auf und wischte sich das Blut aus den Augen. Dann endlich
konnte er wieder mehr von seiner Umgebung erkennen.
Neben dem Körper des Wächters saß eine Ratte, aus deren Mundwinkeln noch
Blut tropfte. Das war also der Schatten gewesen, den er zu sehen geglaubt
hatte, sich dessen aber nicht sicher gewesen war. Die Ratte saß ruhig da und
starrte ihn an.
Irgendwie war es nicht das übliche Rattenstarren, sondern eher, als ob ein
Mensch ihn anschauen würde. Jetzt fiel ihm auch ihre Größe auf. Sie war ein
ganzes Stück größer als die gewöhnlichen Ratten, die in dieser Stadt zuhauf
ihr Unwesen trieben. Aber sie war auch nicht ganz so groß wie die Killerratten,
mit denen die Ariganer ihre wahre Plage hatten und die die Kornvorräte der ganzenEbene bedrohten.
Irgendetwas Seltsames war an dieser Ratte, die keine Anstalten machte,
ihn ebenfalls anzugreifen. Fast schien es, als ob sie ihn nur hatte retten wollen.
Marko fiel ein, wo er sich noch immer aufhielt. Der Kampf mußte die anderen Bewohner des Hauses alarmiert haben, und so zuckte er nur kurz mit den Schultern,
nahm die Ratte als eine Tatsache hin, die ihn nicht weiter zu kümmern
brauchte, und stand dann auf.
Es war Zeit zu gehen.
Er zögerte kurz, bückte sich dann und hob das goldene Kurzschwert auf, das ihm in dem Kampf gute Dienste geleistet hatte. Es war eine hervorragende Waffe,
und er wollte sie nur ungern hier zurücklassen, nachdem er sie schon einmal gefunden
hatte.
Dann machte er sich daran, den Raum zu verlassen. Die Ratte schaute ihn kurz an und trottete dann hinter ihm her. Nun gut, ihm sollte es recht sein; er hatte jetzt keine Zeit, sich mit einer Ratte zu beschäftigen, auch wenn sie sich so
seltsam benahm wie diese.
Wenige Minuten später hatte er das Haus wieder verlassen und war in eine der schmalen Gassen eingetaucht, die so typisch für diese Stadt waren. Den Stein hatte er in der Tasche und das Schwert in der Hand. Auf dem Weg zurück
auf die Straße waren ihm nur zweimal andere Bewohner des Hauses begegnet, denen er aber dank seiner Fähigkeit, sich im Dunkeln fast unsichtbar zu machen,
ausweichen konnte. Ihm stand auch nicht der Sinn nach einem weiteren Kampf, da er immer noch geschwächt von dem letzten war.
Draußen sah er sich noch einmal um und bemerkte wieder die Ratte, die ihm anscheinend die ganze Zeit gefolgt war. Jetzt konnte er auch die Farbe ihres
Fells erkennen, was ihm in der Dunkelheit des Hauses nicht möglich gewesen
war. Seltsamerweise war es nicht dunkel, wie bei all den anderen Ratten, sondern
hatte eine hellblonde Färbung, fast wie menschliches Haar.
"Was bist du denn für ein Tier?" fragte er leise, mehr zu sich selbst als zu der Ratte. Doch das Tier schien ihn verstanden zu haben, denn es legte den Kopf leicht auf die Seite und schien ihm fast zuzublinzeln.
Marko ging ein paar Schritte weiter, während ihm die Ratte weiter folgte.
Er war zwar nicht gerade begeistert von diesem Tier, aber schließlich hatte
es ihm das Leben gerettet. Und, was wichtiger war, die Ratte schien keinen Gedanken an einen Angriff auf ihn zu verschwenden. Fast erschien ihm das Tier zahm. Vielleicht konnte es ihm ja noch von Nutzen sein.
"Na gut, dann komm eben mit."
Es schien so, als ob die Ratte auf diese Worte gewartet hätte, denn sie schloß sofort zu ihm auf und trottete den Rest des Weges zu seiner Behausung neben
ihm her.
EPILOG
Schlaftrunken setzte er sich auf. Was für eine Nacht. Irgendetwas hatte seinen Schlaf gestört, denn wenn er das Licht, das durch die angelehnten Fensterläden
in das Zimmer drang, richtig deutete, war es kurz nach Morgengrauen;
eine Zeit, die er normalerweise verschlief. Dann erinnerte er sich wieder an die Ratte, die ihn auf seinem Weg nach Hause begleitet hatte.
Er schaute neben die Strohmatratze, auf der er lag, zu der Stelle, an der sich
die Ratte hingelegt hatte, als sie sein Zuhause erreicht hatten.
Was er dort erblickte, war jedoch keineswegs eine Ratte, sondern eine etwa 20jährige Frau, die unbekleidet und zusammengerollt genau an der Stelle lag,
an der vorher die Ratte gelegen hatte. Ihr langes, hellblondes Haar konnte nur notdürftig ihre Blöße verdecken.
Verwundert rieb Marko Nightwave noch einmal seine Augen. Er wußte, daß er bei Tageslicht schlechter sah als nachts, aber so eine Täuschung war unmöglich.
Dann sah er wieder hin. Und immer noch bot sich ihm dieses Bild der nackten
Frau dar, die dort neben seiner Matratze lag.
Marko zuckte die Achseln und griff nach einer Decke, die er über die Frau breitete.
Dann setzte er sich auf den Rand der Matratze und wartete. Wenn sie aufwachte, würde sie ihm eine Menge zu erklären haben.
ENDE
© 1.4.93 by Winfried Brand / Mercÿless Story Production
© der überarbeiteten Fassung 05.01.95 by Winfried Brand /
Mercÿless Story Production