9. VOM ENTSCHEIDENDEN ÖRTCHEN 1

Christel Scheja

Vom entscheidenden Örtchen 1

Die Klappe

(Der Bund von Torn)

Ich saß in meinem Raum und blätterte lustlos in den eng beschriebenen Seiten des alten Folianten.

Durch das Fenster klang das Klirren von Stahl auf Stahl und begeisterte Rufe in meinen Raum.

Ich seufzte. Wenn ich es jetzt riskierte einem Blick nach draußen zu werfen, würde ich bestimmt nicht mehr dazu kommen, den Text zu lesen, den Vater Martwyn mir aufgetragen hatte.

Der alte Gelehrte würde den Inhalt am Abend abfragen und wenn ich dann keine Zeile davon beherrschte..

" Mein lieber Junge, zuerst musst du die philosophischen Grundlagen der Wissenschaft verstehen, ehe du sie anwenden kannst. Du bist schließlich ein Mann des Geistes, der zuerst nachdenkt und dann handelt.

Das erspart dir viel Arbeit und noch mehr Spott", lenkte ich mich ab, indem ich die Worte meines Lehrmeisters zitierte.

" Schau dir nur diese Festung an. Glaubst du, sie sei durch die körperliche Arbeit entstanden? Nein! Ein kluger Geist plante den Standort der Mauern und die Lage der Zimmer.

Selbst die Erker in denen du dich erleichterst, hat er nicht vergessen. Und das ist beileibe nicht die Regel! Und warum?

Weil der Verstand jedes Baumeisters in Jahren harten Lernens gereift ist", deklamierte ich übertrieben und grinste breit.

So sicher war ich mir da nicht. Bestimmt hatte der Erbauer unserer Burg über langweilige Schriften Magengrimmen bekommen, und wollte sich den weiten Weg zur Mauer ersparen.

" Ach was sollst!" meinte ich dann zu mir und legte das Buch beiseite, um aus dem Fenster zu blicken.

Von da hatte ich einen guten Blick auf den Hof. Setzten Beron und Hrulf etwa ihre Kraftspielchen fort, die sie gestern Abend nach dem Bankett in der Halle begonnen hatten?

Meine älteren Brüder waren zwar sehr stark, aber nicht gerade von hellem Verstand. Vater Martwyn bezeichnete sie wohlwollend als

" Männer der Tat" trotzdem beneidete ich die beiden manchmal. Sie erreichten eine ganze Menge, indem sie einfach das umsetzten, was ihnen einfiel.

So genossen sie die Anerkennung meines Vaters und ihrer Freunde.

Ich dagegen wurde kaum beachtet, und meine Überlegungen mit einem spöttischen " Das ist nicht so wichtig Cedrys!" abgetan.

Wozu lernte ich denn überhaupt all diese unnützen und langweiligen Dinge, um meinen Verstand zu schärfen, wenn andere mit weniger Mühe mehr Erfolg hatten?

Schon seit vorgestern versuchten meine Brüder den Marschall des Königs zu beeindrucken: Graf Rathgar weilte auf seiner Rundreise durch den Bund von Torn auf Burg Falkenfels.

Beron und Hrulf erhofften sich durch seinen Fürspruch an den Hof gerufen zu werden.

Sie waren der Ansicht, dass der König immer ein paar gute Arme gebrauchen konnte.

Nach dem Bankett hatten sie halbnackt miteinander gerungen; jetzt zeigten meine Brüder ihr Geschick im Zweikampf.

Was war das? Sah ich recht, oder trug Hrulf tatsächlich eine neue Rüstung? Den aufwendigen Panzer, an dem er im Winter zusammen mit dem Schmied gearbeitet, und um den er ein so großes Geheimnis gemacht hatte?

Ich nickte anerkennend. Sollte mein Bruder etwa Verstand entwickelt haben? Die einzelnen Teile der Rüstung wurden durch

feine Scharniere miteinander verbunden, die ihm die bestmögliche Bewegungsfreiheit gaben. Obwohl sein Harnisch mehr wiegen musste als der Kettenpanzer Berons, trieb er meinen Bruder über den Hof und wich jedem seiner Hiebe aus. Wie gelang Hrulf das nur? Meine Neugier war geweckt.

Der Panzer schützte meinen ältesten Bruder vom Nacken bis zu den Füßen.

Ein hoher Kragen bedeckte seinen Hals, um die breiten Schulterklappen ragten eine Handbreit seine Oberarme hinaus.

Die Rüstung hüllte auch den Unterleib ein.

Gelungen fand ich die seitlichen Teile, die bei jeder Bewegung hin und her schwangen.

Sie gaben ihm die nötige Beinfreiheit.

Es klang hölzern und gar nicht metallisch, wenn Beorns Schwert Hrulfs Panzer traf.

Ich runzelte die Stirn.

Dann fiel es mir wie die Schuppen von den Augen.

Das hatte er also dem fremdländischen Händler abgeschwatzt.

Das Wundermetall aus Neifelheim, das so leicht wie Holz, und so hart wie Stein war.

Dafür hatte er seinen liebsten Zuchthengst an Gräfin Myrelda verkauft!

Schließlich war es Beron, der schwer atmend sein Schwert senkte und aufgab.

Hrufl hob seine Klinge und trat vor Graf Rathgar.

Der betrachtete meinen Bruder von oben bis unten.

Plötzlich verwandelte sich der triumphierende stolze Blick meines Bruders in Bestürzung,

Verärgerung, Scham und Zorn.

Anstelle ihn zu loben, machte Graf Rathgar offensichtlich eine abfällige Bemerkung und begann laut zu lachen.

Hrulfs Gesicht lief rot an, doch der erwartete Wutanfall blieb aus.

Mein Bruder ergriff stattdessen die Flucht.

Später traf ich Hrulf in der Küche. Er saß noch in seiner Rüstung vor einem großen Krug mit Bier und starrte in die hoch schlagenden Flammen des Herdfeuers.

Als er mich sah, blickte er auf und drohte mir mit seiner Faust.

" Wage es ja nicht, dich auch noch über mich lustig zu machen, Cedrys!"

Ich setzte eine unschuldige Miene auf.

Im Moment musste ich meine Worte mit Bedacht wählen.

Wenn Hrulf so schlecht gelaunt war wie jetzt, war nicht gut mit ihm Kirschen essen und es setzte Hiebe, wenn ich es zu weit trieb.

" Worüber sollte ich mich lustig machen?" meinte ich.

Im Grunde war das die Wahrheit, weil ich ja nur das Ergebnis gesehen, und bisher nicht den Grund dafür erfahren hatte.

Hrulf zog eine Augenbraue hoch und musterte mich scharf, so als wolle er prüfen, ob ich die Wahrheit sagte, dann brummte er etwas in sich hinein und stand auf.

" Cedrys, Kleiner-du warst doch immer der Klügste von uns", meinte er dann: " Sag mir bloß was an dieser Rüstung falsch ist?

Ich habe so viel Kraft und Geld rein gesteckt - und was ernte ich? Nur Spott." Er schnaubte.

Ich holte tief Luft. Jetzt durfte ich nichts Falsches zu ihm sagen.

" Die Rüstung gefällt mir, und Vater Martwyn würde staunen, welch ein Meisterwerk.."

Ich verstummte als ich den kleinen Fehler bemerkte, der Graf Rathgar so belustigt hatte.

Und starrte auf eine ganz bestimmte Stelle seiner Panzerung.

Ein Gegner würde wohl keinen Punkt finden, an dem seine Waffe die Rüstung durchdringen konnte.

Wie bei einer Schildkröte schauten nur Arme, Beine und der Kopf aus dem Panzer. Alles war vollkommen abgeschirmt.

Eingeschlossen. Aber Hrulf hatte einen entscheidenden Fehler begangen..

Das wichtigste menschliche Bedürfnis nach Essen und Schlafen hatte er vergessen.

Wie sollte er sich denn in diesem Küraß erleichtern, ohne sich selber zu beflecken?

Ich prustete los: " Du hast eine ganz bestimmte Klappe vergessen!" und ergriff die Flucht, als Hrulf wie ein wütender Keiler hinter mir her stürmte.

Eine alte Weisheit fiel mir ein, während ich die Küchentür hinter mir zuwarf und meinen älteren Bruder damit abhängte.

" Auch musst du Beachtung schenken, den niedrigsten Bedürfnissen deines Daseins, denn in der Not erweist sich immer, dass ihre Verachtung dein Untergang ist."

Breit grinsend schlenderte ich zurück zu meinem Zimmer, mich an einer köstlichen Vorstellung erbauend..

C. by. Christel Scheja

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