15. DIE DELEGATION AUS DEM SECHSBERGEREICH

Die Delegation aus dem Sechsbergereich

von Cordula Hart

(Der Bund von Torn)

Dies ist eine Geschichte aus der

Zeit, als Diamant II. König von Neifelheim

und Karneol Glimmersohn

Bürgermeister der ersten vier Stockwerke war.

*

Erika Karneoltochter hatte sich

auch in den vergangenen Jahren -

und in den meisten davon war sie

noch ein Kind gewesen - auf das Fest

der Sommer-Taggleiche gefreut, doch

diesmal erfüllte die Erwartung sie so

ganz und gar, daß sie fürchtete zu

platzen. Nur ihrer Freundin Jasmin

Anthrazittochter vertraute sie es an,

und die schüttelte amüsiert den

Kopf.

"Du weißt doch, wie das mit den

Fremden ist, Erika", warnte sie.

"Sie bleiben in einer Gruppe für sich und

gaffen. Und wenn sie anfangen, Lärm zu machen oder so, sperrt man

sie ein."

"Die Sechsberger sind keine Ungeschlachten", widersprach Erika.

Jasmin gab ihr einen kleinen Knuff, weil sie einen verbotenen Ausdruck

gebraucht hatte.

In Neifelheim lernen die Kinder schon in der Schule,

daß Nichtzwerge intelligente Lebewesen und geschätzte Kunden sind,

daß man sie mit:: Achtung behandeln und ihre oft merkwürdigen Sitten

tolerieren muss Trotzdem hält sich

vor allem für -Menschen die Bezeichnung "die Ungeschlachten".

"Auch dann ist mir schleierhaft, wie du unter ihnen deinen Märchenprinzen finden willst", meinte Jasmin.

"Auf jeden Fall werden sie nicht

in den Gasthäusern am Hafen wohnen, sondern in Privatquartieren,

und zwar bei uns", trumpfte Erika auf.

Das stimmte. In Erikas unterirdischem Elternhaus war reichlich

Platz, seit auch der jüngere ihrer

beiden großen Brüder geheiratet

hatte und ausgezogen war. Karneol

Glimmersohn, Erikas Vater, war

Bürgermeister der ersten vier Stockwerke. Das erste Stockwerk hat nur

wenige ständige Bewohner, weil dort

die Messehallen liegen - gerade deswegen ist dieses Amt

eines der angesehensten in ganz Neifelheim.

Karneol und seine Frau Iris Bauxittochter sprachen davon, für Erika sei es ebenfalls an der Zeit, den Bund fürs

Leben zu schließen, und sie wußten

auch schon, mit wem: Mit Kupfer Quarzsohn.

"Das ist ein zuverlässiger junger Mann", rühmte ihre Mutter ihn.

Erika selbst wollte ganz entschieden nicht. Sie fand ihn langweilig.

"Mir würde er gefallen", hatte

Jasmin dazu mit verschmitztem Lächeln gesagt. "Er hat so wundervolle lange Wimpern."

Jasmins Vater war bei einem Unfall im Bergwerk ums Leben gekommen.

Sie und ihre Mutter brauchten

deswegen keine Not zu leiden, denn

Jasmin war, wie alle Waisen, zum

Mündel des Königs erklärt worden.

Jasmin, eine kleine Schönheit,

war überall wohlgelitten wegen ihres

liebenswürdigen Benehmens.

Von ihr hieß es allgemein:

"Ein reizendes Mädchen- völlig unkompliziert."

Ein junger Mann mit Ambitionen überlegte es sich trotzdem

zweimal, ob er die bezaubernde Jasmin

ehelichen solle, denn ihre Mutter

Prunella Lößtochter, eine Witwe,

die nicht einmal einen Bruder hatte,

war nicht gerade das, was sich ein

Schwiegersohn unter Beziehungen,

Förderern und Fürsprechern vorstellte.

Im Gegensatz zu Jasmin war die

Bürgermeisterstochter Erika ein

unscheinbares Dingelchen, das sich

oft mürrisch zeigte. In der Schule -

in Neifelheim genießen Jungen und

Mädchen den gleichen Unterricht -

hatte sie Schwierigkeiten gehabt.

"Du bist hochbegabt, Erika", hatte

eine Lehrerin einmal festgestellt.

"Leider nützt dir das nichts, weil es

dir an Disziplin fehlt."

Was Erika ungeduldig und reizbar

machte, war die in ihr brennende Sehnsucht,

über die engen Grenzen ihrer Heimat hinauszukommen

.

Ihr Plan war gar nicht so dumm. Als

Mädchen und Angehörige eines

Zwergenstammes konnte sie sich

nicht gut allein nach Moa oder Arigan wagen,

und im Bund von Tom bestand noch dazu die Gefahr,

in die Sklaverei zu geraten. Wie alle Angehörigen ihres

Volkes wußte sie jedoch, daß es außer dieser noch

andere Ebenen gibt. Zwar heißt es:

` Anständige Neiflinge bleiben in Neifelheim, und wenn

sie auf die Ebene der Türme emigrieren, fliehen

oder abgeschoben werden, sind sie nicht

anständig.´

Dessen ungeachtet wandern seit Generationen

Mißvergnügte wie Tunichtgute durch einen Tunnel auf die Ebene der Sechs Türme

aus, wo sie das Sechsbergereich gegründet haben.

Natürlich verachten die Neiflinge die Sechsberger als die

Nachkommen von mißratenen Söhnen und Töchtern,

und umgekehrt sehen die Sechsberger auf ihre provinziellen Verwandten mit Hohn herab.

Der Kontakt ist durch all die Jahre erhalten geblieben,

da die Sechsberger, gewandte Kaufleute, Produkte der Neiflinge auf der Ebene der

Sechs Türme vertreiben und diese

Produkte wiederum ihresgleichen

suchen. Bei wagemutigen jungen Leuten

gilt das Sechsbergereich als das Land

der unbegrenzten Möglichkeiten.

und Erika war entschlossen, einen

Sechsberger zu heiraten.

Eine andere Zukunft als eine Ehe

konnte sie sich nicht vorstellen, ob

wohl es in Neifelheim, da ein leichter

Frauenüberschuß herrscht, auch

Frauen gibt, die unverheiratet bleiben und einen

Beruf ausüben.

Leider ist die Auswahl begrenzt.

Noch nie hat man von einem Mädchen gehört das;

Bergmann hätte werden wollen - oder würde man

dem Fall -Bergfrau" sagen?

**

Am Tag vor dem Fest legte in den

von hohen Klippen geschützten Hafen

an der Nordostküste der Insel ein

Schiff an. Zwei Moaner, Kaufleute aus Tantoria, gingen an Land. Der schmale, hohlwangige hieß Cassius,

der Koloß Waldemar.

Die Besucher wurden von dem diensttuenden Neifling

in eines der beiden Gasthäuser gewiesen, die eigens für großwüchsige

(oder, wie man es nimmt, normalwüchsige)

Besucher erbaut sind.

Die Zimmer sind in allen Abmessungen

den Ungeschlachten angepaßt. Die Türklinken befinden sich auf

Schulterhöhe eines Neiflings, Kochtöpfe und Geschirr sind importiert.

Überall gibt es Tritte und Fußbänke

für das Zwergenpersonal.

Einerseits tut man dort alles, um

den Gästen, zumeist Händlern,

Bequemlichkeit zu bieten, denn die

Neiflinge sind auf die Ausfuhr ihrer

handwerklichen Erzeugnisse sowie

auf die Einfuhr von Lebensmitteln

(sie sind übrigens Vegetarier) angewiesen. So werden, wenn auch mit

saurer Miene, auf Wunsch andere

alkoholische Getränke als Bier ausgeschenkt.

Andererseits sind Vorkehrungen getroffen, daß

die strengen Sitten des Zwergenstaats nicht

durch das lose Benehmen Fremder gefährdet

werden.

Amüsierbetriebe und Bordelle sucht der Reisende vergebens.

Jedes Jahr zur Winter-Taggleiche

halten die Neiflinge in den Ausstellungsräumen dem ersten unterirdischen Stockwerk

eine Messe ab.

Dann wimmelt es natürlich von Ausländern.

Die Sommer-Taggleiche wird dagegen mit einem Volksfest an

der Oberfläche gefeiert. Fremden ist es nicht verboten, daran teilzunehmen, aber

man entmutigt sie auf vielfache Weise.

In den Gasthäusern wird nur ein Notbetrieb

aufrechterhalten, es ist wenig Personal da, die

Gäste müssen, sich an einem Büffet

versorgen und. ihre Betten selbst

machen.

Um die Hochebene zu erreichen,

brauchen sie keinen steilen Pfad hinauf

zuklettern denn ein Personenaufzug der

von oben hochgekurbelt .

wird, ist ebenso vorhandenen wie eine

Krananlage. Sehr unbequem sind

dagegen die niedrigen Bänke auf

dem Festplatz und die Bierkrüge finden Nichtzwerge

lächerlich klein. Zu ihrem Unbehagen merken sie dann noch, daß sie die ganze Zeit unter

scharfer Beobachtung stehen. Einem

Ungeschlachten, der mit einem der

süßen Zwergenmädchen zu schäkern

versucht, wird alsbald von einem

Wächter mit der Pike warnend auf

den Arm geklopft. Auch sind die Mädchen selbst wohlerzogen und ihren

Eltern gehorsam.

Versuche, die (in den Augen anderer) putzigen Wesen

in die Sklaverei zu entführen, als Hofnarren, für Bordelle,

scheitern fast immer, was nicht heißt, daß es nicht das eine

oder andere Mal gelingt.

Waldemar und Cassius hatten

sich kaum nach der langen Seereise

gestärkt und erfrischt, als sie dem

Gastwirt auch schon bekannt gaben,

sie wollten die Hochebene besichtigen,

von der sie soviel gehört hätten.

An dem Personenaufzug stand

unten ein Wachtposten, der ihn über

ein Sprachrohr von oben herunter rief.

Die beiden moanischen Händler stellten

fest, daß die Kabine mit

Hilfe eines stabilen Gurtbands notfalls

auch von innen bewegt werden

konnte. Für Waldemar mußte das

eine Kleinigkeit sein; bei Zwergen

waren sicher mindestens zwei notwendig.

Oben angelangt, blieben sie erst

einmal überrascht vor einem idyllischen

Landschaftspark mit prachtvollem Baumbestand,

gepflegten Blumenbeeten und harmonisch

eingepaßten niedrigen Gebäuden stehen.

Hier hat sich ein gewisses Kleinwildtierleben entwickelt,

Vögel, Eichhörnchen, Nagetiere, das von den

Neulingen mit Schonung behandelt

wird. Größere Tiere möchten sie auf

ihrer Insel nicht haben, weil die Hege

ihnen zu viele Umstände machen

würde. Das einzige störende Element

sind die hohen Schornsteine, die

harmlose weiße Wölkchen in die Welt entlassen.

Allerdings waren Cassius und

Waldemar nicht hergekommen, um

sich von dem Zauber der Natur einfangen zu lassen.

Sie kehrten ihr

bald den Rücken und beobachteten

den Wachtposten am oberen Ende

der Aufzuganlage. Gerade kamen

zwei Neiflinginnen, die im Gasthaus

geputzt hatten, zum wohlverdienten

Feierabend nach oben.

"Ein Kinderspiel", murmelte Waldemar.

"Erst wird der untere Wachtposten überwältigt,

dann der obere."

**

Am Morgen des ersten Festtags

kam Jasmin vor dem Frühstück in

Erikas Elternhaus, weil sie an der

Andacht teilnehmen wollte, die Karneol

Glimmersohn abhielt. Auch die

beiden Söhne mit ihren Frauen und

ein Enkelkind waren schon eingetroffen.

Religion ist für die Neiflinge

in erster Linie eine Familienangelegenheit.

Wenn wir hier von "Morgen" sprechen,

so ist damit der richtige Morgen an

der Oberfläche gemeint. Die

Neiflinge folgen dem komplizierten

Rhythmus von Tag und Nacht, der

auf der Würfelwelt herrscht, denn sie

leben im Einklang mit der Natur

wenn auch unterirdisch.

Jasmin nahm wieder alle Erwachsenen

durch ihr andächtiges Betragen für sich

ein. Sie hatte sich heute

ganz besonders schön gemacht.

Ihr blondes Haar fiel ihr. Zu zwei dicken

Zöpfen geflochten, bis über die Taille.

Auf dem Kopf trug sie ein Häkelmützchen aus

Goldfäden, und goldbestickt waren auch ihre zierlichen

schwarzen Samtschuhe. Ein roter Rock umspielte

in schwungvoller Weite ihre Waden,

dazu kamen ein

Brokatmieder und eine weiße Bluse

mit üppigen Rüschen am Hals und

an den Armen

Schmuck trug sie keinen. Sie

konnte darauf getrost verzichten.

Nach der Andacht erschien Kupfer,

der die beiden Mädchen zum

Festplatz begleiten wollte. Jasmin

wäre am liebsten gleich nach oben

gefahren, aber Erika bat sie und

Kupfer stürmisch, so lange zu warten,

bis ihr Vater mit den Sechsbergern

zurück sei. Denn der Bürgermeister machte

sich so eben auf, um

zusammen mit einigen anderen

Würdenträgern in den Tunnel hinunterzufahren,

der den Weg ins Sechsbergereich bildete.

Erika könne ja auf den Festplatz nachkommen, schlug

Jasmin vor. Kupfer ging nicht darauf ein, denn auch er war auf die

Delegation aus einer anderen Welt

neugierig.

Es waren drei Sechsberger, sie

hatten wegen der zur Grenze hin

immer stärker abnehmenden

Schwerkraft Schuhe mit Magnetsteinen

unter den Sohlen angezogen

und hielten sich vorsichtig auf

dem eingelassenen Metallstreifen.

Von den beiden Personen mittleren

Alters war eine ein Mann, die andere

eine Frau. Dazu kam ein junger

Mann von auffallender Schönheit.

Er machte den Anfang, öffnete das

Törchen in dem hart an der Grenze

stehenden Schutzzaun und ließ die

Füße über die Kante gleiten. Karneol ergriff

sie und zog ihn ein Stück

in den Gang hinein. Es dauerte ein

:paar Sekunden, bis der Junge merkte,

daß er nicht mit den Füßen auf

leerer Luft stand, sondern solide auf

dem Rücken lag. Mit verlegenen

Lächeln stand er auf.

Auch die beiden anderen landeten

glücklich im Tunnel der Neiflinge,

zuerst die Frau. Karneol hätte es

schicklicher gefunden, wenn ihr

Ehemann ihr vorangegangen wäre

und ihr dann geholfen hätte. Nun mußte

er es tun, und er bedauerte, Iris nicht

mitgenommen zu haben. Mit einer

Frau hatte er nicht gerechnet.

Im Augenblick waren sie alle ein

bißchen blaß um die Nase, und die

Frau hielt die Hände auf die Magengegend

gepreßt. Hoffentlich erholte sich ihr Ehemann

schnell genug, daß er sich um sie kümmern konnte.

Doch als der ältere der beiden Männer das Wort ergriff und die Vorstellung übernahm,

stellte sich heraus, daß er und die Frau gar kein

Paar waren.

Er war Aufsichtsratsmitglied Leisefuß

Greifeschnellsohn,

sie Geschäftsführerin Freudenreich

Dukatentochter.

Der Name des Jungen, der noch keinen Titel führte,

lautete Blauauge Steinherzsohn.

Auf dem Weg den Tunnel entlangund während der Fahrt nach oben

mußte Karneol sich sehr beherrschen,

damit seine Augen nicht immer wieder

zu Freudenreich Dukatentochter abirrten.

Auch die beiden Männer wirkten in ihrer bunten,

auffälligen Kleidung spektakulär-

was erwartete man von Sechsbergern anderes?

Aber eine Frau aus

dem Sechsbersereich war bisher

noch nie in Neifelheim gewesen.

Kurzes. dunkelrotes Haar umgab

ihren Kopf in üppiger Lückenpracht

wie eine Mähne Ihr Gesicht hatte

sie zweifellos bemalt: Sie trug einen

knöchellanger. engen Rock, der sich

den Konturen, ihres Körpers an-

schmiegte und an der Seite bis beinahe

ganz oben hinauf geschlitzt

war. Bei jedem zweiten Schritt

konnte man ein wohlgeformtes Bein

in einem Netzstrumpf sehen, und das

rief die quälende Frage wach, ob das

zweite Bein ebenso wohlgeformt und

ebenfalls mit einem Netzstrumpf bekleidet sei.

Ihre Fingernägel waren lang,

spitz und rot lackiert. Ihre Stimme

klang rauh - das fanden die Neiflinge besonders seltsam.

Vor Karneols Wohnungstür verabschiedeten sich die anderen Würdenträger fürs erste, und der Bürgermeister führte die Gäste in den Kreis seiner Familie ein.

Man wollte zum Festplatz aufbrechen, und Blauauge Steinherzsohn.

bat um die Erlaubnis, sich den unverheirateten

jungen Leuten anschließen zu dürfen. Iris war das

nicht ganz recht. Sie beschwichtigte ihre Bedenken mit der Überlegung, daß sie sich auf Kupfers Besonnenheit verlassen könne.

So zogen sie zu viert los, und auf

jemanden, der nicht besonders scharf

beobachtete, mußten sie den Eindruck

unbeschwerter Fröhlichkeit

machen.

Blauauge bewunderte alles, was

er zu sehen bekam, und flocht lustige

Anekdoten aus dem Sechsbergereich ein

Auch wenn er darauf achtete, immer

beide Mädchen gleichzeitig anzusprechen,

seine Augen suchten dabei die Erikas.

Erika himmelte ihn unverhohlen

an. Sah er nicht ganz wie ein Märchenprinz

aus?

Zu seinen auffallend

blauen Augen bildeten die schwarzen

Locken einen scharfen Kontrast, er

hatte feine Gesichtszüge, er war (für

einen Angehörigen seines Volkes)

hochgewachsen, rank und schlank,

und dazu sprühte er vor Charme.

Kupfer machte gute Miene zum

bösen Spiel, ohne sich auch nur eine

Sekunde lang zu entspannen.

Auf diese Weise wurde Jasmin in

eine Abseitsposition gedrängt. Sie

war zu klug, um zu schmollen. Statt

dessen spähte sie unauffällig zu anderen

Gruppen hinüber, ob sich nicht

irgendwo ein Ritter für sie finde.

***

Die beiden moanischen Händler,

Kompagnons und Schwäger, waren

unter anderem auch im Sklavenhandel tätig.

Eigentlich waren sie nur

hergekommen, um das Terrain für

einen Überfall zur Tagundtaggleiche

des nächsten Sommers zu sondieren.

Doch jetzt bot sich ihnen ein Opfer

für einen schnellen Handstreich geradezu an.

"Die Kleine ist unternehmungslustig",

sagte Waldemar grinsend zu

Cassius.

Er meinte Jasmin. Von nun

an behielten sie sie im Auge. Aha, das

graue Mäuschen war die Bürgermeisterstochter,

und die kleine Schönheit, vielleicht eine arme Verwandte,

wurde aus Mitleid mitgeschleppt.

Sie sprach einmal mit einer Frau. die

ihre Mutter sein mochte, und auch

diese verfügte nicht über männliche".

Schutz. Cassius, der sehr gute Ohren hatte,

brachte ihren Namen in

Erfahrung:

Prunella Lößtochter

Leisefuß. Greifeschnellsohn und

Freudenreich Dukatentochter

schlenderten zusammen mit Karneol und Iris über den Festplatz: Immer wieder mußten sie stehen bleiben, um Bekannte

zu begrüßen, und

in der allgemein guten Stimmung

nahm man die beiden Sechsberger

freundlich auf.

Am Abend betrachtete Erika sich

im Spiegel. "Ich mag nicht hübsch

sein", sagte sie zu sich selbst, "dafür

bin ich interessant. Jawohl!"

****

Wie Jasmin hatte sie ihr Haar zu

Zöpfen geflochten. Nur waren sie

keine weizenblonde Pracht, sondern

ziemlich dünne, kurze Rattenschwänze

von unbestimmter Dreckfarbe.

Erika löste sie auf, griff zur

Handarbeitsschere und schnitt sich

die Haare ab, ganz so,

wie Freudenreich Dukatentochter sie

trug.

Dann wusch sie sie. Das Ergebnis war katastrophal. Die Haare hingen ihr wie Schnittlauch ins Gesicht, und außerdem hatte sie Stufen hineingesäbelt.

Als Erika am nächsten Morgen

zum Frühstück kam, entrang sich

ihrer Mutter ein Aufschrei: "Wie

siehst du aus? Was soll Kupfer dazu

sagen!"

Kupfer sagte weiter nichts, als

daß die Sonne heute noch sehr heiß

brennen werde. Vielleicht tue Erika

gut daran, ihren hübschen Strohhut

aufzusetzen.

*****

Das Fest war auf seinem Höhepunkt.

Cassius und Waldemar hatten ihre Rechnung

im Gasthaus schon bezahlt und das an Gepäck,

was sie für den kurzen Aufenthalt

gebraucht hatten, wieder an Bord

bringen lassen. Jetzt fuhren sie noch

einmal mit dem Aufzug zum Hochplateau

hinauf. An einem Stand mit Backwaren

und Leckereien fragte Waldemar die

Neiflingin, die die Festteilnehmer

bediente:

"Was kosten diese Lebkuchen, schöne Frau?"

Sie lachte. Das alles kostete- nichts.

Was beim Fest der Tagund-taggleiche

gegessen und getrunken

wurde, war gespendet worden, und

die jüngeren Erwachsenen taten

reihum stundenweise Dienst.

"Du bist Prunella Lößtochter, nicht wahr?" ergriff Cassius das

Wort. "Ist es denn auch Fremden erlaubt, zu spenden?"

"Ich weiß nicht..." Prunella war so

etwas noch nie vorgekommen.

Der Fremde legte ihr drei Goldmünzen hin

. "Hier - zu deiner freien Verfügung."

Jasmin war zu der Gruppe getreten und merkte,

daß ihre Mutter zauderte.

"Du darfst den Herrn nicht beleidigen, Mutter", mahnte sie.

Da steckte Prunella die Münzen ein.

"Noch nie", erklärte Cassius, "habe ich mich so gut amüsiert. Ich

wäre bereit, dafür einen ganzen Beutel solcher Goldmünzen zu spenden.

Leider kannte ich die hiesigen Sitten

nicht, und jetzt liegt der Beutel auf unserem Schiff, und wir müssen gleich abreisen. Wie wäre es, Töchterchen",

wandte er sich an Jasmin, "wenn du uns nach unten begleitetest? Ich würde dir den Beutel geben,

und du könntest gleich wieder nach oben fahren."

Er machte ein paar Schritte in

Richtung Aufzug. Jasmin blieb zunächst stehen. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie,

daß Blauauge Steinherzsohn zu ihr hinsah und sich in Bewegung setzte. Der zweite

Fremde, der Riese, schob sich zwischen sie und die Zwergenmenge.

"Nun komm schon. Mädchen!"

Zehn Meter von dem Personenaufzug

entfernt blieb Jasmin stehen.

. "Ich will nicht mit."

Cassius faßte ihren Arm und zog sie weiter.

"Hilfe, Hilfe" schrie Jasmin.

Der bärenhafte Waldemar warf sie sich kurzerhand über die Schulter.

Jasmins Hilferufe waren gehört

worden, drei Wachen mit Piken rannten herbei.

Sie wären auf jeden Fall

zu spät gekommen, und unten am

Hafen waren nur zwei Mann.

Mit großem Vorsprung den Wachen voran lief Blauauge Steinherzsohn.

Während Waldemar mit der zappelnden, kreischenden Jasmin weiter dem Aufzug

zustrebte, blieb Cassius stehen, um den unbewaffneten Zwerg abzuwehren.

Blauauge war gar nicht unbewaffnet.

Er führte einen nicht gleich als

Waffe erkennbaren sechsbergischen

Pfeffersprüher bei sich. Dieser verschießt durch

Federdruck leicht zerbrechliche,

mit gemahlenem Pfeffer

gefüllte Kapseln. Damit schoß

er Cassius in die Augen.

Bei Cassius' Aufschrei drehte

Waldemar sich verdutzt um und bekam

ebenfalls eine Ladung ab. Er

stöhnte und wand sich, Jasmin kam

los und rannte klugerweise den

schon nahe herangekommenen

Wachen, denen andere Leute folgten,

entgegen.

Die beiden Moaner wurden umringt

und so lange festgehalten, bis

der atemlos eingetroffene Cyan Rötelsohn

Skizzen von ihnen angefertigt hatte.

Unter Bedeckung schaffte man die beiden

Händler im Lastenaufzug nach unten und gab ihnen

unmißverständlich zu verstehen,

daß sie sich in Neifelheim nie wieder blicken lassen dürften.

Einen Racheakt fürchteten die

Neiflinge nicht.

Sie halten - möglicherweise nicht zu unrecht - ihre

Verteidigungen für unüberwindlich

Der zurückkehrende Trupp wurde mit Jubel empfangen.

Prunella und Jasmin lösten sich aus der Menge.

"Mein Held, mein Retter", hauchte Jasmin verschämt.

Blauauge ergriff ihre Hand.

"Möchtest du mit mir ins Sechsbergereich kommen, Jasmin?" fragte er.

Jasmins geflüsterte Zustimmung

ging unter in dem lauten Jubelrufe ihrer Mutter.

Peinlicherweise jubelte sonst niemand.

Ganz im Gegenteil, verlegenes Schweigen breitete

sich unter den Umstehenden aus.

"Bei wem muß ich um Jasmins

Hand anhalten?" erkundigte Blauauge sich mit fester Stimme.

"Beim König!" antwortete Prunella Lößtochter ihm. energisch schritt sie dem jungen Paar zu dem Prunkzelt voran, aus dem König Diamant

II. dem bunten Treiben mit gnädigem Lächeln zusah. Leisefuß Greifeschnellsohn und Freudenreich Dukatentochter

bildeten die Nachhut der kleinen Gruppe. Prunella selbst

schilderte dem Monarchen den Vorfall

und Blauauges Rettungstat.

Diamant II. legte die Stirn in Falten.

"Ich wüßte nicht, wie man dem

jungen Helden seinen Wunsch

abschlagen könnte", äußerte er sich

schließlich. "Immer vorausgesetzt,

das Mädchen ist einverstanden."

"O ja, Majestät, es ist mein innigster Wunsch",

lispelte Jasmin.

Ein paar besonders königstreue

Neiflinge stimmten ein mattes "Hurra!" an.

******

Kupfer Quarzsohn legte den Arm

um Erikas Schultern und führte sie

aus dem Getümmel fort zu einer".

ruhigen Plätzchen, wo sie sich hinsetzen konnten.

"Du bist mit Recht entsetzt, daß

deine Freundin eine so unkluge Wahl

getroffen hat", sagte er.

"Aber davon abhalten kann sie niemand mehr. "

Erika wußte nicht recht, ob er sie wirklich mißverstanden hatte oder

nur aus Schonung so tat als ob.

Jedenfalls ermöglichte er es ihr auf diese

Weise, das Gesicht zu wahren. Sie

schluchzte beschämt auf und barg

den Kopf an seiner Schulter.

"In gewisser Weise kann ich Jasmin sogar verstehen", fuhr Kupfer

versonnen fort.

"Auch ich habe manchmal das Gefühl, Neifelheim sei

mir zu eng und ich müsse hinaus, um

mir die große weite Welt anzusehen."

"Du auch?" rief Erika.

"Und weißt du, was ich mir gedacht habe?"

Kupfer zog sie enger an

sich.

"Mein Vater befürwortet im Rat

das Projekt, in Arigan eine Handelsniederlassung

zu gründen.

Bis zu unserer Hochzeit wird er es durchgesetzt haben.

Dann ziehen wir beide mit einer Schar anderer nach Arigan."

*******

Prunella Lößtochter mochte noch

so begeistert sein, alle ihre Bekannten

schienen es darauf abgesehen zu

haben, ihr die Freude mit tausend

Bedenken zu vergällen. Zum Schluß

der aufgeregten Debatte hieß es:

"Die beiden können nicht unverheiratet

zusammen abreisen!"

Freudenreich Dukatentochter trat vor.

"Jasmin steht unter meinem Schutz!"

Da mußten die Neiflinginnen

nachgeben. Sie ließen die Sechsberger und Jasmin stehen und zogen

Prunella mit sich fort. Sie wehrte sich

nicht; schließlich hatte sie ihren Willen durchgesetzt.

Karneol Glimmersohn bewog seinen Kollegen, den Bürgermeister der

zweiten vier Stockwerke, die Delegation aus dem Sechsbergereich

wenigstens im Aufzug nach unten zu bringen. Durch den Tunnel

zur Grenze begleiteten sie sie nicht mehr.

So sahen sie das Grüppchen in der

Ferne verschwinden:

Aufsichtsratsmitglied Leisefuß Greifeschnellsohn

schritt vorweg.

Ihm folgten die Bordellbesitzerin Freudenreich Dukatentochter und Jasmin.

Den Schluß bildete Blauauge Steinherzsohn. Er hatte einen Beutel Gold am Gürtel

hängen. Das war die Mitgift, die Jasmin als Mündel des Königs zustand.

Denn einen Bankverkehr von Ebene zu Ebene gibt es nicht.

© 1995 by Cordula Hart

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